Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie entdeckte die Radioaktivität und ebnete den Weg zur Moderne. Nun setzt ihr die Regisseurin Marjane Satrapi mit «Marie Curie – Elemente des Lebens» ein filmisches Denkmal. Was berührt sie an dieser Frauenfigur? Was können wir von dieser selbstbestimmten Frau lernen?

Marjane Satrapi, die Wissenschaftlerin Marie Curie begleitet Sie seit Ihrer Kindheit. Ihre Mutter pflegte Ihnen zu sagen: Du kannst eine Marie Curie oder eine Simone de Beauvoir werden. Was repräsentierten diese Frauen damals für Sie?
Beide waren für mich Vorbilder der Emanzipation und der Selbstbestimmung. Mit diesen Vorbildern machte mir meine Mutter klar, dass ich weder heiraten, noch Mutter oder Hausfrau werden musste, wenn ich nicht wollte. Sie sagte: Du darfst sein, wer du sein möchtest. Und da Marie Curie eine bahnbrechende Entdeckung gemacht und als einzige Frau der Geschichte zwei Nobelpreise in zwei verschiedenen Kategorien gewonnen hatte, wusste ich, dass das möglich war.

Sie hätten auch einen Film über Simone de Beauvoir machen können. Warum entschieden Sie sich für Marie Curie?
Ich mag Simone de Beauvoir und habe ihren Klassiker «Das andere Geschlecht» sehr früh gelesen, aber Marie Curie ist mir näher. Sie ist eine Feministin der «Aktion». Ihr Feminismus beweist sich durch ihr Leben und nicht durch große Worte oder Theorien. Sie hat den Frauen viele Wege eröffnet: Sie war nicht nur die erste Professorin an der Sorbonne, sondern auch die erste Frau, die einen Nobelpreis erhielt – und das gleich zweimal. Aber das Frausein spielte für sie nie wirklich eine übergeordnete Rolle. Was sie interessierte, war die Wissenschaft. Und darin war sie die Allerbeste, besser als alle Männer um sie herum.

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Marie Curies Feminismus beweist sich durch ihr Leben und nicht durch große Worte oder Theorien.

Haben Sie Aspekte ihres Lebens entdeckt, die Sie nicht kannten?
Natürlich, viele sogar. Wenn jemand so berühmt ist wie Marie Curie, dann vergisst man fast, dass hinter dieser wissenschaftlichen Ikone ein vielschichtiger Mensch steht. Durch die Arbeit am Film habe ich viele Facetten von Marie Curies Persönlichkeit erst kennengelernt, etwa dass sie eine sehr talentierte Zeichnerin war und wirklich alles mit unbändiger Leidenschaft anging.

Sie selbst sind im Iran aufgewachsen und im gleichen Alter nach Frankreich gekommen wie einst Marie Curie aus Polen. Verbindet Sie diese Erfahrung des Exils?
Wir sind beide mit zwanzig Jahren hergekommen und haben beide unsere Heimat verlassen, weil wir dort nicht erreichen konnten, was wir erreichen wollten. Das verbindet uns in der Tat. Allerdings hört die Parallele hier auch schon wieder auf. Marie war ein Genie, ich bin es nicht.

Sie haben Ihre Lebensgeschichte im Comic «Persepolis» verarbeitet, der ein Welterfolg wurde. Was hat Sie das Aufwachsen in einer Diktatur bezüglich Selbstbestimmung gelehrt?
Nach der islamischen Revolution gab es ein Verbot für alles! War ich weniger frei in meinem Denken? Nein, das war ich nicht. Wurde ich zu einer dummen Person? Nein, bin ich nicht. Denn egal, wie sehr sie mich auch kontrollierten, sie konnten nicht in meine Gedanken eindringen. Diese gehören nur mir und sie bleiben unter meiner Kontrolle, wenn ich mich dafür entscheide. Und das kann ich nur entscheiden, wenn ich es trainiere. Selbstbestimmung liegt also an uns. Jeder hat die Wahl.

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Niemand gewinnt zwei Nobelpreise, indem er Kuchen backt und sich den ganzen Tag singend die Haare kämmt.

In Frankreich wurde in den vergangenen Monaten viel über die Theorie des «female gaze», des weiblichen Blickwinkels, diskutiert. Was halten Sie davon? Macht eine Frau einen besseren Film über eine Frau als ein Mann?
Nein, ich kann mit solchen Theorien überhaupt nichts anfangen. Die Schriftstellerin Nathalie Sarraute sagte einmal: «Die Literatur hat kein Geschlecht.» Und das stimmt. Ebenso wenig wie Genie und Intelligenz. Nehmen wir Flaubert, den ich liebe: Er war ein lediger Mann und doch hat er ein Buch geschrieben, in dem man sich als Frau erkennt. Außerdem sollte man aufhören, so zu tun, als sei es per se bewundernswert, wenn eine Frau einen Film macht, so als seien Frauen irgendwie minderbemittelt oder debil. Das sollte heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein.

Trotzdem scheint es, dass Sie Marie Curie mit dem Blick einer Frau betrachten. Die meisten Männer porträtieren Biopic-Heldinnen als wunderschöne, reizende Wesen, die zufällig auch genial und erfolgreich sind. Ihre Marie hingegen ist so, wie sie wahrscheinlich wirklich war: Ein bisschen schroff, wahnsinnig stur, sehr von sich selbst überzeugt, voll auf sich und ihr Werk konzentriert…
Natürlich. Anders geht es ja auch nicht. Niemand gewinnt zwei Nobelpreise, indem er Kuchen backt und sich den ganzen Tag singend die Haare kämmt. Wer etwas erreichen will, muss hart sein, konzentriert und kompromisslos. Bei Männern akzeptiert man das, findet es sogar bewundernswert, bei Frauen ist es ein Problem. Man will den Mythos der Frau aufrechterhalten – auch Frauen wollen das. Ich habe mich mit manchen Leuten wirklich gestritten, weil sie fanden, Marie sei nicht sympathisch genug. Ich erklärte dann: Wäre sie sympathisch, wäre sie vielleicht deine Ehefrau geworden, aber nicht die bekannteste Wissenschaftlerin aller Zeiten.

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Marie Curie ist für mich ein Vorbild der Emanzipation und der Selbstbestimmung.

Ihr Ehemann, Pierre Curie, wirkt im Film wiederum sehr sympathisch. Und sehr offen. War Pierre Curie der wahre Feminist der Familie?
Ja, so könnte man das sagen. Eine Frau zu heiraten, die ihm ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen war, mit ihr gemeinsam zu forschen und zu akzeptieren, dass sie berühmter ist als er, das war damals unglaublich modern und unkonventionell. Das fällt ja auch heute noch einigen Männern schwer, so was zu akzeptieren.

Das Forscher-Ehepaar hat das Element Radium und die Radioaktivität entdeckt, die der Welt nicht nur die Radio- und Strahlentherapien, sondern auch die Atombombe brachten. Am Ende Ihres Films fragt Marie ihren Pierre: «We did good, didn’t we?» Ahnte sie die Gefahr?
Natürlich. Die Wissenschaft bringt etwas Neues in die Welt und hofft, sie zu verbessern, zugleich weiß sie aber genau, dass der Mensch zum Besten wie zum Schlimmsten fähig ist und eine Entdeckung in die eine wie auch in die andere Richtung genutzt werden kann. Pierre und Marie waren sich dessen bewusst, wie ja auch Pierres Rede anlässlich des Nobelpreises beweist: Er mahnte zur Achtsamkeit. Beide wussten, dass ihr Werk auch Frankensteins Monster werden könnte. Nur liegt die Verantwortung für die Nutzung ihrer Entdeckung nicht bei ihnen, sondern bei der Gesellschaft.

Zu Curies Zeiten begeisterte sich die Gesellschaft für die Wissenschaften. Man glaubte fest daran, dass Fortschritt eine gute Sache sei. Heute scheinen das viele anzuzweifeln. Wie sehen sie das?
Ich glaube weiterhin fest an den Fortschritt. Denken sie nur ans Internet. Wie großartig ist es, dass ich in meinem Telefon eine ganze Enzyklopädie dabeihabe, statt zwanzig dicke Bände in meiner Handtasche herumschleppen zu müssen. Von Social Media halte ich nichts, allerdings muss ich da ja auch nicht mitmachen. Es ist mit dem Fortschritt wie mit allem: Man hat die Wahl. Der Mensch trägt die Verantwortung für das, was er aus den Dingen macht.

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Marjane Satrapi

Marjane Satrapi (51) ist eine iranisch-französische Comiczeichnerin und Filmemacherin. Satrapi wuchs in Teheran auf, studierte in Wien und emigrierte 1994 nach Frankreich. Weltweit wurde sie durch ihre Comic-Autobiografie Persepolis bekannt, die über eine Million Mal verkauft wurde. Der gleichnamige Zeichentrickfilm wurde für den Oscar nominiert und gewann den Europäischen Filmpreis sowie den wichtigsten französischen Filmpreis, den César. Ihr vierter Film «Marie Curie – Elemente des Lebens» (Originaltitel: Radioactive) mit Rosamunde Pike in der Hauptrolle kommt im Sommer 2020 in die europäischen Kinos. Marjane Satrapi ist verheiratet und lebt in Paris.

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