Das neue Buch Mündig von Ulf Poschardt ist ein flammendes Plädoyer für die Selbstbestimmung. Ein Gespräch mit dem promovierten Philosophen und Chefredakteur der Welt-Gruppe über selbstfahrende Autos, Greta Thunberg und den Skateboarder als Prototyp des mündigen Menschen.

Ulf Poschardt, Ihr neues Buch gründet in einer pessimistischen Zeitdiagnose: Nichts Geringeres als das freie, selbstbestimmte Individuum – eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung – sei heute bedroht. Wo sehen Sie die Gefahren?
Der Philosoph Immanuel Kant vermutete einst in der Bequemlichkeit der Menschen die Hauptursache für die weit verbreitete Unmündigkeit und ich glaube, das trifft den Kern der Sache. Das Konzept, «mündig» zu sein, ist eben nur eine Option und nichts, was Menschen im Zweifel unbedingt wollen. Hinzu kommt heute die moderne Technologie, die es den Menschen immer einfacher macht, unmündig zu sein. Wir können uns mittlerweile schon von Algorithmen die Welt erklären und unseren Geschmack verwalten lassen – und im selbstfahrenden Auto ist künftig jeder nur noch Beifahrer.

Eine aktuelle Umfrage von Swiss Life zeigt: Zwei von drei Mitteleuropäern bezeichnen sich als selbstbestimmt. Sie attestieren hingegen eine regelrechte Sehnsucht nach Fremdbestimmung. Warum freuen sich Ihrer Meinung nach immer mehr Menschen auf die Entmündigung?
Weil es bequem ist und sozial verbindend. Der Opportunismus ist in seiner vermeintlichen Harmlosigkeit verführerisch, aber er ist das Gift einer liberalen Demokratie, das schleichend Dinge und Werte zersetzt.

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Mündigkeit ist eine Voraussetzung dafür, frei sein zu können. Selbstbestimmung ist das Ergebnis davon.

Sie plädieren für die Rückbesinnung auf die selbstbestimmte Existenz und wählen dafür den Kant’schen Begriff der Mündigkeit. Ist Mündigkeit ein anderes Wort für Selbstbestimmung?
Nein, beide Wörter haben ihre ganz eigene Bedeutung. Mündigkeit ist eine Voraussetzung dafür, frei sein zu können. Und Selbstbestimmung ist das Ergebnis davon.

Was bedeutet es denn konkret, «mündig» zu sein?
«Mündig» sein ist eine innere Haltung und die Fähigkeit, autonom handeln und denken zu können, ohne isoliert werden zu wollen. Es bedeutet den unbedingten Willen zur Selbstverantwortung und zum Selbstdenken. Etwas trivialer könnte man sagen: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die «Autorenschaft über die eigene Biografie».

Mündigkeit beinhaltet für Sie auch die Fähigkeit des «Driftens». So wie der Rallyefahrer durch die Kurve driftet, sollen wir unser Leben meistern. Klingt gefährlich. Der mündige Mensch ist also ein Adrenalin-Junkie?
Nein. Aber eben auch kein Feigling. Risiken sind dort eine Bereicherung, wo sie am Ende für ein besseres, wacheres, intensiveres, aufregenderes Leben stehen. Ein Junkie ist süchtig. Und Sucht raubt Autonomie und Mündigkeit und ist somit vielmehr ein Gegenentwurf zur Freiheit. Nichts driftet hingegen so schön um die Ecke wie ein alter Ferrari oder ein neuer Porsche GT3RS eines Rallyefahrers. Zur Selbstbestimmung gehört Mut zum Risiko. So wie der Rallyefahrer durch die Kurve driftet, sollen wir unser Leben meistern. Denn es ist wichtig, im Leben vernünftig unvernünftig sein zu können, um glücklich zu werden.  

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Es ist wichtig, im Leben vernünftig unvernünftig sein zu können, um glücklich zu werden.

Sie beschränken sich nicht auf die theoretische Einordnung, sondern beschreiben sehr anschaulich 16 mündige Existenzformen. Vom Unternehmer über den Intellektuellen bis zum Konsumenten. Als eigentlichen Prototyp des mündigen Menschen identifizieren Sie dabei den Skateboarder. Was zeichnet diesen aus?
Er tanzt durch das Leben und bleibt frei, obwohl er sehr diszipliniert an kleinsten Erfolgen über die Schwerkraft arbeitet. Der freie Mensch will fliegen und der Skateboarder versucht es jeden Tag. Wenn ich deprimiert bin über die mangelnde Freiheitssehnsucht der Menschen, sehe ich mir stundenlang Skateboard-Videos an. Und dann geht es wieder.

Sie feiern unter anderem auch Greta Thunberg als Vorbild einer neuen, mündigen Frauengeneration. Was können wir von ihr lernen?
Wir können lernen, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sich als kleines Mädchen mit einem Pappschild vor eine Schule zu setzen und damit eine der wirkmächtigsten politischen Gesten des 21. Jahrhunderts zu entwerfen, ist spektakulär. Zudem sind Greta oder Luisa Neubauer auch Role Models für ein besseres und gesünderes Leben. Ich finde sie bereichernd.

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Mündigkeit ist Voraussetzung für Demokratie. Nur ein autonomes Subjekt impft eine Gesellschaft vor dem Fall in die Unfreiheit.

«Mündigkeit ist nicht angeboren», so schreiben Sie, «sondern eine Fähigkeit, für die man etwas tun muss». Wie lernt man das?
Man muss es wollen. Das ist ein guter Anfang. Das Wichtigste aber ist die Erziehung zur Mündigkeit – und diese muss früh beginnen. Mündigmachung bedeutet die Befähigung zur Autonomie, zum klugen Zweifel statt zum blinden Gehorsam.

Inwiefern spielt dabei der Lebensstil eine Rolle? Laut der erwähnten Umfrage fühlt sich die Landbevölkerung selbstbestimmter als die Stadtmenschen.
Weniger Entfremdung und mehr Realität helfen beim Mündigwerden. Selbstbestimmung ist zugegebenermaßen auch mühselig und eine unaufhörliche Lebensaufgabe. Sie setzt neben Mut auch Härte und Disziplin voraus. Eigenschaften, die vom Landleben möglicherweise stärker abverlangt werden.

Selbstbestimmte Menschen sind zudem deutlich weniger gestresst, viel zufriedener und optimistischer. Ist Mündigkeit der Schlüssel zum Glück?
Absolut. Für mich wäre ein unmündiges Leben Zeitverschwendung. Trotzdem verhalte ich mich oft unmündig. Quasi als Genuss in der Abgrenzung zum mündigen Leben. Wir wollen ja keine protestantische Vernunftherrschaft im existenziellen Sinne.

Zur Selbstbestimmung gehört Mut zum Risiko. So wie der Rallyefahrer durch die Kurve driftet, sollen wir unser Leben meistern.

Corona hat gemäss dem Swiss Life-Barometer die Selbstbestimmung gestärkt. Überrascht Sie das?
Nein, in der existenziellen Sorge findet ein neuer Ernst mit sich selbst statt. Wir erkennen die Fragilität der Existenz und wissen, dass sie endlich ist. Das Virus hat uns verletzlicher und damit auch sensibler gemacht.

Sie betrachten Mündigkeit auch als eine politische Notwendigkeit.
Absolut. Denn Mündigkeit ist Voraussetzung für Demokratie. Sie ist das Ergebnis freier Willensbildung und damit die einzige politische Organisationsform, die den mündigen Bürger braucht.

Was ist denn dagegen einzuwenden, wenn angesichts einer immer komplexeren Welt mit ihren globalen Problemen die Autonomie des Einzelnen etwas in den Hintergrund rückt und das Kollektiv an Bedeutung gewinnt?
Gerade die deutsche Geschichte zeigt, wie das WIR zum Albtraum werden kann. Nur ein autonomes Subjekt impft eine Gesellschaft vor dem Fall in die Unfreiheit. Dessen sollten wir uns bewusst sein, besonders in Zeiten, in denen die liberale Demokratie von Populisten und Radikalen bedroht wird.

Photo credits: Martin U. K. Lengemann/WELT

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Ulf Poschardt

Ulf Poschardt (53) ist promovierter Philosoph, Journalist und Buchautor. Seit 2016 ist er Chefredakteur der «Welt-Gruppe» (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV). Er veröffentlichte unter anderem «DJ Culture» und «911», ein Buch über den Porsche 911. Im Februar 2020 erschien «Mündig» im Klett-Cotta-Verlag. Poschardt lebt mit seiner Familie in Berlin.

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