Die Kombination aus schnellem technologischem Wandel und einer alternden Gesellschaft sorgt für Zukunftsängste. Der britische Professor Andrew J Scott ist überzeugt: um diese Ängste in Hoffnung umzuwandeln, müssen wir einen anderen Blickwinkel einnehmen. Im Gespräch liefert er Denkanstöße für unser neues langes Leben und erklärt, weshalb Corona eine große Debatte zur Langlebigkeit ausgelöst hat.
Die Corona-Pandemie stellt uns vor eine noch nie da gewesene Herausforderung. Wie geht es Ihnen in dieser besonderen Zeit?
Diese einfache Frage zu beantworten ist so schwierig geworden, nicht wahr? In denke, bei den meisten Menschen hängt die Antwort davon ab, ob sie an Corona erkrankt sind oder wie stark sie finanziell oder psychisch davon betroffen sind. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich an Covid erkrankt war. Ich hatte auf jeden Fall etwas ganz Übles, aber ohne Test besteht keine Gewissheit. Finanziell war es schon auch ein Dämpfer, aber anderen geht es viel schlechter als mir. Angesichts der Umstände bin ich sehr zufrieden. Am seltsamsten finde ich, wie schön und vor allem ruhig London jetzt gerade im Frühling ist. Man hört die Vögel singen und die Kirchenglocken läuten und sieht den ungewöhnlich schönen blauen Himmel – und gleichzeitig geht dieses unsichtbare Virus um und verursacht Chaos.
Wie selbstbestimmt fühlen Sie sich im Moment?
Angesichts der Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit und beim Reisen werden meiner Selbstbestimmung aktuell ganz klar Grenzen gesetzt. Als Akademiker will ich aber vor allem lesen, denken und schreiben und in dieser Hinsicht ist es im Moment einfacher als je zuvor, selbstbestimmt zu sein. Diesbezüglich bin ich sogar eher übermäßig selbstbestimmt. Normalerweise erhalte ich viele Anregungen und Einblicke aus ungezwungenen, lockeren Gesprächen mit Co-Autoren, und das ist derzeit fast nicht möglich.
In Ihrem Bestseller «Morgen werden wir 100» beschreiben Sie und Co-Autorin Lynda Gratton, wie wir als Individuen und als Gesellschaft unser Leben hinsichtlich der höheren Lebenserwartung neu strukturieren müssen. In den nächsten Tagen erscheint Ihr neues Buch «The New Long Life». Was ist «neu» an unserem langen Leben?
Als wir über «Morgen werden wir 100» sprachen, wurden wir immer wieder gefragt, wie wir angesichts der Ängste vor dem Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund des technologischen Wandels unser Leben neu strukturieren sollen. Künstliche Intelligenz und Roboter dürften den Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren umkrempeln. Interessant ist, dass sowohl Langlebigkeit als auch Technologie hauptsächlich als Bedrohung wahrgenommen werden, obwohl diese Entwicklungen uns eigentlich ein besseres längeres Leben ermöglichen könnten. Wenn wir als Menschen clever genug sind, wunderbare neue Technologien zu entwickeln und unser Leben zu verlängern, sollten wir doch auch die gesellschaftliche Raffinesse besitzen, das zu unserem Vorteil zu nutzen.
Wie können diese Ängste in Hoffnung umgewandelt werden?
Zunächst müssen wir einen anderen Blickwinkel einnehmen. Neue Maschinen, die uns mühselige Arbeiten abnehmen und uns ein längeres, gesünderes Leben ermöglichen, sollten wir als Chance sehen, nicht als Bedrohung. Dann müssen wir verstehen, dass wir als Menschen die Richtung, in die diese Trends gehen, beeinflussen können. Weder Technologie noch Demografie sind vom Schicksal bestimmt. Und das führt mich zu meiner letzten Quelle der Hoffnung – der Zivilgesellschaft. Wir brauchen die Zivilgesellschaft, um sicherstellen, dass wir auf Langlebigkeit und Technologie in einer Art und Weise reagieren, die für uns als Menschen stimmt, und nicht nur von den Interessen von Regierungen und Unternehmen geprägt ist.
Auf dem Cover Ihres neuen Buchs «The New Long Life» ist ein Chamäleon abgebildet. Wie viel Anpassungsfähigkeit brauchen wir Menschen, um mit unserem neuen langen Leben Schritt zu halten?
Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit sind immer wertvollere Fähigkeiten. Langlebigkeit bedeutet, dass wir einen längeren Horizont vor uns haben, Technologie bedeutet mehr Komplexität und zusammen heißt das, dass sich unser Umfeld laufend verändern wird – manchmal durch unsere eigenen Entscheidungen, manchmal durch externe Veränderungen.
Sie sagen, dass sich unser Leben vom klassischen Drei-Stufen-Modell zu einem vielstufigen Leben mit zwei, drei oder mehr Berufskarrieren verändern wird. Wie können wir die Herausforderungen angehen, die mit diesem Paradigmenwechsel verbunden sind?
Ein vielstufiges Leben erfordert mehr Investitionen in sein künftiges Ich und die Fähigkeit, besser mit Wandel und Veränderung umzugehen. Diese Kompetenzen standen in der Vergangenheit nicht im Fokus, werden aber im Umgang mit Langlebigkeit und dem technologischen Wandel immer wichtiger. Außerdem darf man diesbezüglich von Unternehmen oder vom Staat relativ wenig Unterstützung erwarten. Wir müssen selbstbestimmter werden. Das Chamäleon bewahrt nicht nur seine Identität, indem es sich erfolgreich anpasst, sondern seine Identität wird eigentlich durch diese Anpassungsfähigkeit definiert.
Nehmen Sie diesen Wandel als zusätzlichen Druck wahr oder sehen Sie ihn als Chance für ein selbstbestimmteres Leben?
Die Menschen tragen heute ein viel größeres Risiko für ihre Zukunft als früher. Dies erzeugt mehr Druck auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Wenn wir aber lernen, diese Fähigkeiten erfolgreich einzusetzen, sind sie ein entscheidendes Element für das menschliche Gedeihen. Wenn wir im Durchschnitt länger leben und länger gesund bleiben, dann haben wir auch mehr Zeit und mehr Möglichkeiten, was wir mit dieser zusätzlichen Zeit anstellen wollen – statt sie nur zur Verlängerung des Ruhestands zu verwenden.
Auch die Arbeitgeber sind gefordert, wenn wir länger leben und arbeiten. Was braucht es, damit Mitarbeitende künftig noch zufrieden und produktiv sind?
Das ist in der Tat eine riesige Herausforderung. Marc Freedman sagt, dass ältere Menschen die einzige natürliche Ressource sind, die der Welt nicht ausgeht. Jene Staaten und Unternehmen, die am besten mit dieser Ressource umzugehen wissen, werden in den kommenden Jahren einen enormen Wettbewerbsvorteil haben. Einige Firmen stellen sich dieser Herausforderung bereits, oftmals verhalten sie sich aber paradox: Sie stellen begeistert Produkte für den lukrativen Markt der ältere Konsumenten her, vergessen dabei aber ihre eigenen Mitarbeitenden. Arbeitgeber müssen Wege finden, wie sie längere Berufskarrieren mit flexiblen Arbeitsmodellen unterstützen oder Mitarbeitenden ermöglichen können, sich um ihre betagten Eltern zu kümmern. Und sie müssen altersdiskriminierende Anstellungspraktiken abschaffen. Außerdem müssen sie erkennen, dass viele dieser Bedürfnisse nicht nur älteren Mitarbeitenden vorbehalten sind, sondern für alle Mitarbeitenden, unabhängig vom Alter, gelten. Wir konzentrieren uns in der Regel zu stark auf eine Debatte rund um die alternde Gesellschaft – darauf, dass es immer mehr ältere Menschen gibt – anstatt darüber zu sprechen, worum es bei der Langlebigkeit geht. Die Art, wie wir altern, verändert sich.
Denken Sie, dass die Corona-Pandemie eine Auswirkung auf diese Debatte haben wird?
Corona verstärkt die Auffassung, dass ältere Menschen verwundbar sind. Aber Corona zeigt uns auch, dass die Menschen anders altern, und dass 65 Jahre heute gar nicht mehr so alt ist, wie wir denken. Ich hoffe, dass aus dieser Krise eine Diskussion hervorgeht, die veraltete Ansichten rund um das Alter aus dem Weg räumt.
Lehrt uns die Krise, wie wir uns schneller auf ein langes Leben in einem sich stetig verändernden Umfeld einstellen?
Ich hoffe es. Seit Jahren höre ich von der Zukunft der Arbeit, der Zukunft der Bildung, der Zukunft des Gesundheitswesens usw. und wie sich alles durch die technologische Entwicklung verändern wird. Corona hat grundlegend und nachhaltig verändert, wie wir Technologie in all diesen Bereichen einsetzen. Was die Technologie und die alternde Gesellschaft anbetrifft, hat uns Corona bereits in die Zukunft katapultiert.
Andrew J Scott
Andrew J Scott ist Wirtschaftsprofessor an der London Business School und Consulting Scholar im Zentrum für Langlebigkeit der Standford University. Seine Arbeiten und Ideen, die er in mehrfach preisgekrönter Forschung, Schrift und Lehre umsetzt, tragen zu einem globalen Verständnis der tiefgreifenden Veränderungen unserer Welt bei und zeigen Maßnahmen für den individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt auf. Als Verwaltungsratsmitglied und Berater verschiedener Unternehmen und Regierungen ist Scott Mitgründer des ‘Longevity Forum’, einer Organisation mit dem Ziel eines gesünderen längeren Lebens, sowie Mitglied des Cabinet Office Honours Committee (Wissenschaft und Technologie).
'The New Long Life: A Framework for Flourishing in a Changing World'
Intelligente neue Technologien. Ein längeres, gesünderes Leben. Der menschliche Fortschritt hat beeindruckende Höhen erreicht, sorgt aber gleichzeitig für Angst, auf was wir zusteuern. Sind unsere Jobs in Gefahr? Wenn wir 100 Jahre alt werden, werden wir dann jemals wirklich aufhören zu arbeiten? Und wie wird dies die Art verändern, wie wir lieben, Menschen führen und von anderen lernen?
Andrew J Scott und Lynda Gratton bieten aus wirtschaftlicher und psychologischer Perspektive ein einfaches Rahmenwerk, das auf drei grundlegenden Prinzipien beruht (Erzählen, Erforschen, Berichten), und ein Werkzeug an die Hand gibt, um die kommenden Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Weitere Informationen zum Buch finden Sie auf der Website von Andrew J Scott.