Jeder Mensch hat noch nicht entdeckte Potenziale und versteckte Fähigkeiten. Aber wie gelingt es, sie zu identifizieren und zu entwickeln? Genau damit beschäftigt sich der Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther – wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Hüther, bevor ich mein Potenzial entfalten kann, muss ich es erst mal erkennen. Ist das nicht schon die erste Schwierigkeit?

Das ist tatsächlich nicht so leicht, vor allem dann nicht, wenn Sie zu denen gehören, die sich bisher darum bemüht haben, möglichst optimal zu funktionieren und mit dem, was Sie tun und wofür Sie sich einsetzen, die Erwartungen anderer Personen zu erfüllen. Meist sind das die eigenen Eltern oder andere Menschen, die Ihnen wichtig sind. Um dieses Programm aufzulösen, müssten Sie versuchen, sich daran zu erinnern, ob es jemals in Ihrem Leben etwas gab, was Sie wirklich gern und aus eigenem inneren Antrieb gemacht haben und nicht, weil Sie es anderen Recht machen wollten. Bei Kindern ist eine Begabung noch leichter zu entdecken. Denen braucht man nur dabei zuzuschauen, wenn sie frei und unbekümmert, also ohne Aufsicht und Anleitung spielen. Dann sieht man sehr schnell, was sie wirklich interessiert. Und das ist meist das, wofür auch ein besonderes Potenzial in ihnen angelegt ist.

Wenn ich mein besonderes Potenzial kenne: Wie gelingt es mir, dass daraus eine Fähigkeit wird?

Indem wir das tun, was uns Freude macht. Und bei Kindern, indem wir ihnen so oft es geht Gelegenheit bieten, das zu machen, was sie aus sich heraus gern machen. Wenn man bemerkt, dass sie sich gern mit etwas beschäftigen, könnte man ihnen dafür entsprechendes Material zur Verfügung stellen, weitere Anregungen bieten und sie möglichst kompetent dabei begleiten, dass sie aus ihrem Talent für etwas dann auch eine entsprechende Fähigkeit entwickeln. Man sollte dabei aber sehr gut darauf achten, ob das, was Kinder gern machen, auch wirklich etwas ist, was aus ihnen selbst erwächst und nicht dadurch entsteht, weil sie dadurch besonders viel Anerkennung oder Aufmerksamkeit gewinnen. Oder ob sie das nur deshalb gern machen, weil es ihre Freundinnen und Freunde auch alle machen. Also zum Beispiel mit dem Smartphone herumdaddeln. Das wäre dann fremdbestimmt.

Kann man es sich antrainieren, begeisterungsfähig(er) zu sein?

Nein, begeistern kann man sich nur über etwas, das einem wirklich Freude macht. Das kann man nicht üben oder gar trainieren. Aber man kann aufpassen, dass einem niemand seine ursprüngliche Begeisterungsfähigkeit raubt oder sie zerstört. Deshalb sollte man sich vor Besserwissern und Alleskönnern schützen. Auch vor denen, die sich nicht mitfreuen können, wenn einem etwas gut gelingt.

Was kann ich selbst tun, um das Beste aus mir rauszuholen?

Das klingt ja furchtbar. Wenn Sie so herangehen und sich selbst zum Objekt ihrer Optimierungsbemühungen machen wollen, geht das mit Sicherheit schief. Sie können das, was in Ihnen als Potenzial schlummert, nicht „herausholen“, sondern nur Gelegenheiten suchen, wo es sich entfalten kann. Das gelingt Ihnen aber wohl nur dann, wenn Sie sich selbst mögen und deshalb auch sehr feinfühlig auf sich selbst und Ihre Bedürfnisse achten.

Wie kann eine Gesellschaft Potenzialentfaltung fördern?

Eine Gesellschaft kann gar nichts, wenn die Menschen, die diese Gesellschaft bilden, es nicht wirklich wollen. Glauben Sie, dass alle wollen, dass jeder, die in ihm angelegten Potenziale, also seine Talente und Begabungen wirklich entfaltet? Wer schafft dann ihren Müll weg? Und wer repariert ihre Straßen? Und wer kauft dann noch gern all das unnötige Zeug, das in den Läden oder im Internet angeboten wird? Wenn die Bürger einer heutigen Gesellschaft tatsächlich zu einer Potenzialentfaltungsgemeinschaft werden wollten, könnte diese Gesellschaft nicht so bleiben, wie sie ist. Sie würde sich sehr tiefgreifend verändern. Und davor haben die meisten große Angst. Deshalb machen sie lieber weiter so wie bisher – auch wenn es keine Freude macht und alles stagniert.

Sie sprechen oft davon, dass Menschen wie Subjekte behandelt werden sollten. Was meinen Sie damit genau?

Solange jemand so, wie er ist, von anderen angenommen und wertgeschätzt wird, erlebt er sich als Subjekt: Dann hat er auch Lust, sein Leben so zu gestalten, dass es für ihn und für die anderen gut ist. Und dann entfaltet er auch die in ihm angelegten Potenziale, bleibt zeitlebens ein begeisterter Entdecker und Gestalter.

All das geht aber nicht, wenn eine Person von anderen zum Objekt von deren Erwartungen, Absichten, Bewertungen, Belehrungen, Maßnahmen oder gar Anordnungen gemacht wird. Und genau das passiert zwangsläufig in einer Gesellschaft, in der jeder versucht, sich auf Kosten anderer Bedeutung, Einfluss, Macht und Reichtum zu verschaffen.

Deshalb lautet der Leitsatz der „Akademie für Potentialentfaltung“ auch: „Solange Menschen sich gegenseitig zu Objekten ihrer Absichten und Ziele, ihrer Bewertungen und Belehrungen, ihrer Maßnahmen und Anordnungen machen, ist die Entfaltung der in diesen Menschen angelegten Potentiale unmöglich. Sobald aber Menschen anfangen, einander als Subjekte zu begegnen, einander also einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, ist die Entfaltung der in ihnen angelegten Potentiale unvermeidbar.“

Potenzialentfaltung ist also der natürlicherweise ablaufende Prozess, den wir eigentlich nur mehr oder weniger lange dadurch, dass wir andere zum Objekt machen, behindern können. 

Vita:
Gerald Hüther (www.gerald-huether.de), Sachbuchautor und Vorstand der „Akademie für Potentialentfaltung“. Er befasst sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung (www.akademiefuerpotentialentfaltung.org).

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