Coworking – das kollektiv genutzte Großraumbüro – erobert die Welt. Zu den Miterfindern gehört die Social-Marketing-Unternehmerin Tara Hunt. Ein Gespräch über den Aufstieg des Coworking und den massiven Digitalisierungsschub des Arbeitslebens durch die Coronakrise.

2006 eröffneten Sie in San Francisco den ersten Vollzeit-Coworking Space der Welt. Wie kamen Sie darauf?
Die Idee entstand aus unseren eigenen Bedürfnissen heraus. Mein Mitgründer Chris Messina und ich arbeiteten damals als Freelancer, und weil wir vom Homeoffice die Nase voll hatten, trafen wir uns mit Gleichgesinnten in einem Café namens Ritual Roasters. Der Besitzer hatte wenig Freude daran, dass wir den ganzen Tag seine Tische besetzten und besonders arbeitsförderlich war die Umgebung auch nicht. So begannen wir über ein Gemeinschaftsbüro nachzudenken. Eines Tages hörten wir von Brad Neuberg, einem Programmierer, der an einigen Tagen pro Woche unter dem Slogan «coworking» Schreibtische vermietete. Wir schloßen uns mit ihm und einigen anderen zusammen und gründeten «Teh Hat Factory» (kein Tippfehler, Anm. d. Red.). Wenige Monate später, gründete ich mit Chris den ersten Vollzeit-Coworking-Space «Citizen Space».

Der Slogan des «Citizen Space» lautete: «A nicer place to work» («Ein schönerer Platz zum Arbeiten»). Ging es primär darum, die coolen Büros von Google und Apple zu kopieren?
Es ging uns von Anfang an um mehr als ein schnelles WLAN, Kaffee-Bars und schicke Sofas. Freelancer, Soloselbständige und Start-up-Unternehmer sind oft einsam und unter Stress, sie wollen sich mit Gleichgesinnten austauschen. Es ging uns darum, eine Gemeinschaft zu bilden. Coworking bedeutet, dass man Wissen austauscht und sich unterstützt, wenn es mal nicht so läuft. Deshalb haben wir die fünf Coworking-Grundwerte formuliert: Gemeinschaft, Offenheit, Kollaboration, Nachhaltigkeit und Erreichbarkeit.

Wie konnte sich die Idee so rasant weltweit verbreiten?
Weil wir alles in unseren Blogs und Google Groups offen dokumentierten. Im Nu hatten wir das Interesse von Menschen aus aller Welt geweckt. Hunderte und bald schon tausende von Menschen traten der Gruppe bei und fragten, ob sie eigene Räume eröffnen konnten. Wir trafen den Nerv der Zeit. Die Digitalwirtschaft explodierte gerade und es gab immer mehr junge Menschen, die sich als Programmierer, Webdesigner oder Social-Media-Strategen selbständig machten.

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Freelancer, Soloselbständige und Start-up-Unternehmer sind oft einsam und unter Stress, sie wollen sich mit Gleichgesinnten austauschen.

Inzwischen gibt es weltweit rund 22 000 Coworking Spaces, in denen 2,2 Millionen Menschen arbeiten. Die Vermietung von flexiblen Arbeitsplätzen ist zu einem lukrativen Geschäft geworden. Konnte der Spirit der Gründerjahre bewahrt werden?
Auch wenn die Medien dazu neigen, sich auf hochgejubelte Beispiele wie WeWork zu konzentrieren, sind diese nicht Bestandteil der Coworking-Bewegung und werden von dieser nicht einmal als Konkurrenz betrachtet. Die ursprünglichen Werte, auf denen Coworking aufgebaut wurde, sind in den vielen Tausend lokalen und sehr persönlich geführten Coworking-Räumen rund um die Welt immer noch vorhanden. Die gegenwärtige Corona-Krise zeigt das.

Inwiefern?
Es entwickelt sich gerade so etwas wie ein virtuelles Coworking. Die Coworker sind online in Kontakt, teilen ihre Erfahrungen, helfen einander aus der Ferne und organisieren virtuelle Happy Hours, um so die Einsamkeit zu überbrücken. Die Gemeinschaftserfahrung von vor der Krise hilft ihnen nun in der Krise.

Das Coronavirus hat unsere Arbeitswelt über Nacht radikal verändert. Was wird davon bleiben?
Wir erleben gerade ein unfreiwilliges Experiment, das in Echtzeit abläuft und zu einer massiven Digitalisierung des Arbeitslebens führen wird. Auch konservativere Unternehmen realisieren: «Hey, Fernarbeit funktioniert! Wir können auch so effizient arbeiten!» Regulierte Arbeitsstrukturen, starre Hierarchien oder eine 9-to-5-Präsenz-Kultur werden in der Folge immer mehr zu Relikten. Stattdessen gibt es künftig mehr flexible Arbeitsmodelle, mehr agile und dezentrale Teams. Und auch die Gig-Economy erhält einen zusätzlichen Schub: Noch mehr Jobs werden an digitale Soloselbständige vergeben.

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Coworking bedeutet, dass man Wissen austauscht und sich unterstützt, wenn es mal nicht so läuft.

Der grosse Sieger der Krise ist also das Homeoffice?
Nein. Der wahre Sieger heißt Coworking. Denn was uns die gegenwärtige Erfahrung auch verdeutlicht: längerfristig ist das Homeoffice keine nachhaltige Lösung. Wir sind soziale Wesen. Viele Menschen können zu Hause nicht produktiv sein. Sie brauchen die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, sie brauchen den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und die Energie von gemeinsamen Büros. Coworking macht uns zufriedener, motivierter und erfolgreicher – das zeigen verschiedene Studien.

Macht die Digitalisierung unser Arbeitsleben auch selbstbestimmter?
Theoretisch schon, da sie uns erlaubt, zeitlich und örtlich flexibler zu arbeiten. Praktisch hat sie aber zu einer 24/7-Erreichbarkeit geführt und unsere Work-Life-Balance verschlechtert. Viele Menschen arbeiten nicht mehr, um zu leben, sondern sie leben, um zu arbeiten. Ich habe das am eigenen Leib erfahren und die Konsequenzen daraus gezogen. Wann immer möglich, schalte ich mein Handy vom Freitagabend bis am Sonntag aus. Eine wunderbare Pause, ich merke sogar, wie mein Herzschlag herunterkommt.

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Wir erleben gerade ein unfreiwilliges Experiment, das in Echtzeit abläuft und zu einer massiven Digitalisierung des Arbeitslebens führt.

Wird Corona daran etwas ändern?
Wenn ich mir eine Lehre aus dieser Krise wünschen könnte, dann wäre es ein Umdenken hin zum achtsameren Leben. Lasst uns ein Stück unserer Selbstbestimmung zurückholen.

Apropos Selbstbestimmung: Sie sind inzwischen eine erfolgreiche Social-Marketing-Unternehmerin in Toronto. Arbeiten Sie mit Ihrer Firma noch in einem Coworking Space?
Tatsächlich haben wir als Start-up in einem lokalen Coworking Space begonnen. Doch nachdem wir stark gewachsen waren, zogen wir 2017 in ein eigenes Büro. Dort nutzen gelegentlich auch andere Firmen oder Freelancer unsere Arbeitsplätze. Der Coworking-Geist lebt also weiter.  

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«Spiral Muse» in San Francisco: Der Programmierer Brad Neuberg vermietet 2005 unter dem Slogan «Coworking» tageweise einzelne Arbeitsplätze.

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«Teh Hat Factory» in San Francisco: Der erste Vollzeit-Coworking-Space eröffnet im Frühling 2006.

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«Citizen Space» in San Francisco: Eröffnung im Herbst 2006 mit dem Slogan «A nicer place to work» («Ein schönerer Platz zum Arbeiten»).

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Die Coworking-Pionierin

Tara Hunt (46) gehörte zum Gründungsteam, das 2006 in San Francisco den ersten Vollzeit-Coworking-Space «Teh Hat Factory» eröffnete. Die Kanadierin hat mehrere Start-ups im Bereich des Online und Social Marketing gegründet und zählt zu den wichtigsten Influencerinnen zu Fragen der digitalen Kultur. 2009 veröffentlichte sie das Buch «The Whuffie Factor» über die Macht des Social Networking. 2013 war sie für die Social-Media-Strategie des aktuellen kanadischen Premierministers Justin Trudeau mitverantwortlich. Heute ist sie CEO der Social-Marketing-Agentur Truly Inc. in Toronto, wo sie mit ihrem Partner lebt.

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